Libeskind in Nizza

Artikel von Katharina Linke

An der Côte d’Azur wird derzeit das erste französische Bauvorhaben von Studio Libeskind realisiert (1). Es trägt den Namen Iconic und besetzt ein besonders prominentes Eckgrundstück an einer der Hauptschlagadern Nizzas.

Das Baufeld erstreckt sich über mehrere Parzellen entlang der Gleisanlagen, führt vom Hauptbahnhof hinunter zur Straßenbahnhaltestelle und markiert dort den Beginn der Fußgängerzone. Es wird vollständig überbaut. 18 300 m² BGF verteilen sich auf 6½ Geschosse: 7 000 m² Ladenfläche, 1 800 m² Büros und 2 200 m² Fitness-Studios, dazu kommt ein Hilton-Hotel mit 120 Zimmern, das Ganze in gläsern/metallisch funkelnde, facettenreiche Fassaden verpackt.

Ansichten, Studio Libeskind und Février Carré Architectes
Bauantrag PC00608816S0310 (2)

„Der Entwurf orientiert sich an einem für die Gegend typischen Mineral, dem  Azurit: Jede Spitze ist Teil eines perfekten Kristalls, dessen Kanten sich der Avenue Jean Médecin zuwenden, während sich in den metallischen Facetten der Fassade und den bedruckten Glasflächen die umliegenden Häuser, der Himmel und die Landschaft Nizzas spiegeln.“

Homepage Studio Liebeskind (3)

Libeskind bricht wie zu erwarten mit städtebaulichen Traditionen; die Meinungen sind entsprechend geteilt. Während manche kopfschüttelnd an der Baustelle vorbeigehen, setzen andere – darunter auch der Bürgermeister – große Hoffnungen in das Projekt. Mit der Bildung der Stadtagglomeration Metropole Nice Côte d’Azur ist Nizza Gegenstand einer ambitionierten Stadtentwicklungspolitik geworden. In der fünftgrößten Stadt Frankreichs sind zahlreiche Bauvorhaben geplant, bereits fertiggestellt oder noch im Bau: Allianz Riviera, Nice Méridia, Pôle Gare Thiers, Les Moulins, Eco Vallée …(4)

Das Gebäude, das Studio Libeskind für die Compagnie Phalsbourg entworfen und gemeinsam mit Fevrier Carre Architectes geplant hat, geht einher mit den Bemühungen um den Hauptbahnhof, denn das Grundstück gehörte bis dahin zum Bahnhofsareal und der gesamte Bereich ist Bestandteil eines nationalen Programms zur Erneuerung sanierungsbedürftiger Stadtviertel (PNRQAD) (5) . Das PNRQAD Notre Dame wurde 2012 eingerichtet und umfasst die Stadtviertel Notre Dame, Thiers und Vernier (6).

PNRQAD Notre Dame
Plangrundlage: Katasterplan

2015 wurde im Rahmen dieses Sanierungsprogramms ein Wettbewerb für den besagten östlichen Teil des Bahnhofsareals ausgerufen. In der engeren Auswahl: Altarea Cogedim mit dem Architekten Clément Blanchet, Cirmad-Bouygues mit dem Architekten Jean-Marie Duthilleul, Sogeprom mit Marc Mimram Architectes und die Compagnie de Phalsbourg mit Daniel Libeskind. Die Entscheidung fiel im Oktober 2016, die Jury wählte den von Libeskind entworfenen Iconic, um dem Bahnhofsviertel neues Leben einzuhauchen und die beiden Stadtviertel Thiers und Vernier zusammenzuführen.

Eine wahre Herausforderung, denn die vor langer Zeit gezogenen infrastrukturellen Grenzen – Bahntrasse und Stadtautobahn – bleiben vom Bauvorhaben unberührt.

Fußgänger, Skater und Fahrradfahrer können die Schienen im Bereich des Iconic nur an zwei Stellen unterqueren: Unmittelbar neben dem Baugrundstück führt die Fortsetzung der Fußgängerzone in blaues Zwielicht getaucht unter den Stahlträgern der alten Eisenbahnbrücke hindurch; eine zweite Unterführung, die schon wegen der schnell fahrenden Autos bei Fußgängern und Fahrradfahrern äußerst unbeliebt ist, liegt weiter westlich unter dem Bahnhofsgebäude. Weitere Verbindungen sind nicht vorgesehen. Die schienenbewehrte Barriere bleibt intakt.

Avenue Jean Medecin/Rue de la Reine Jeanne. © KJL

Dass hoch oben der Verkehr über die Stadtautobahn rauscht, macht die Sache nicht einfacher. Der Geräuschpegel mindert Wohnqualität und Marktwert. So war die Rue de la Reine Jeanne, die im Norden entlang der Gleise verläuft, lange Zeit verwahrlost: dunkle Ecken, als Pissoir oder Müllhalde genutzt, parkende Lieferwagen etc. Dank einiger im Rahmen des Sanierungsprogramms bereits durchgeführten Um- und Neubaumaßnahmen hat sich die Situation inzwischen etwas verändert.

Auf der anderen Seite der Gleisanlagen sah es immer etwas besser aus. Zum einen, weil sich dort der Eingang zum Hauptbahnhof befindet, zum anderen, weil die Avenue Thiers als Querverbindung zwischen den beiden Nord-Süd-Achsen diente. Im Rahmen des Projekts Pôle Gare Thiers wurde die Avenue Thiers nun beruhigt. Der Fahrradweg wartet noch auf seine Vollendung und Grünanlagen fehlen bislang, aber der neugestaltete Bahnhofsvorplatz mit Taxiständen und Bushaltestellen hat bereits etwas von seiner alten Eleganz zurückgewonnen.

Vernier und Thiers

Verbindungen
Plangrundlage: Katasterplan

Wie in vielen Städten leidet das Bahnhofsviertel natürlich auch darunter, dass die Menschen dort nicht verweilen wollen. Sie sind auf dem Weg woanders hin und steigen nur ein oder aus. Das neue Geschäftszentrum könnte dem Ort eine neue Dimension geben. Es verlässt sich nicht nur auf die Kauflust der Einwohner Nizzas, mit Büros und Fitness-Studios zieht auch städtischer Arbeitsalltag mitsamt Feierabendangebot ein.

Ob die Mischung dauerhaft Erfolg haben wird, wird letztendlich auch von Art und Qualität abhängen: Filialen großer Ketten mit Standardauswahl oder aparte Läden, in denen man beim Stöbern auch mal die Zeit vergessen kann, auf die Schnelle oder mit Sorgfalt zubereitete Speisen? Die Außenterrasse könnte das zweigeschossige Restaurant im 5. bzw. 6. Obergeschoss zu einem angesagten Treffpunkt machen.

Schnitte: Studio Libeskind und Février Carré Architectes

Bauantrag PC00608816S0310 (2)

Öffentlich zugängige Flächen im Freien sind im Erdgeschoss angeordnet. Da sich der Baukörper deutlich von der Grundstücksgrenze zurückhält und der Höhenunterschied zwischen Haupteingang und Bahnhofsvorplatz fast 5 m beträgt, entsteht entlang der Avenue Thiers eine Pufferzone, die sich über zwei Niveaus erstreckt, um schließlich da, wo die Straßenbahn hält und die Fußgängerzone beginnt, in eine groß angelegte Treppe zu münden, über die die Stadt hereinströmen kann.

Baumassenplan, Studio Libeskind und Février Carré Architectes

Bauantrag PC00608816S0310 (2)

Die Anordnung der Baumassen lässt keinen Zweifel offen: Der Bau wendet sich klar von den Gleisanlagen ab nach Süden. Die Verbindung nach Norden bleibt auf Sichtbeziehungen beschränkt. Hier soll die aufsehenerregende Architektur visuell zusammenführen, was räumlich getrennt bleibt.

„Ich wollte ein Gebäude schaffen, das aus jeder Richtung zu sehen ist. Ein Gebäude, das zu einem verbindenden Gewebe wird und das Viertel wieder zusammenbringt.“

Daniel Liebeskind (7)

Blick von der Rue Paganini auf die Baustelle, 3. Januar 2021. © KJL

Haltestelle der Straßenbahnlinie 1, 3. Januar 2021. © KJL

Aber wie viel Ausstrahlung muss ein Bau haben, um zum Mittelpunkt regen städtischen Treibens zu werden, um vorhandene räumliche Barrieren zu entkräften? Wie viel Charisma kann ein Gebäude haben? Wie verlockend muss das kulturelle und kommerzielle Angebot sein?

„Wir befinden uns hier in einer Stadtmitte, die, wenn man genauer hinsieht, ihren zentralen Charakter verloren hat, weil sich sämtliche Aktivitäten im Laufe der Jahre nach Süden verlagert haben … Wir setzen ein extrem starkes Zeichen, weil wir der Stadt auf diese Weise ihr Gleichgewicht wiedergeben.

Christian Estrosi, Bürgermeister von Nizza 2017 (8)

Die nicht mehr ganz so neue Mode, spektakuläre Architektur als Wunderdroge der Stadtentwicklung einzusetzen, hat auch Gegner und man kann die Frage nach Sinn und Nutzen solcher Bauten ruhig mal stellen, vor allem, wenn einem die Stadt als Schauplatz menschlicher Interaktion am Herzen liegt. Warum verselbstständigt sich die Architektur, warum gleichen Gebäude immer öfter Skulpturen? Brauchen wir keine Stadträume mehr? Was ist aus dem harmonischen Ensemble geworden? Ist Harmonie out?

Was Libeskinds Entwurf der Stadt Nizza auf Dauer bringt, bleibt abzuwarten. Die Eröffnung des Geschäftszentrums verschiebt sich vorerst. Der Bauantrag war kurz nach Verkündigung der Gewinner eingereicht und bereits im Mai 2017 genehmigt worden, die Arbeiten begannen noch im gleichen Jahr (9) , aber seit dem Lockdown im Frühjahr 2020 geht es eher langsam auf der Baustelle voran (10). Das Vorhaben leidet besonders stark unter der Corona-Krise, weil einige an ausländische Firmen vergebene Gewerke aufgrund diverser Reiseverbote längere Zeit stillstanden. Der Baufortschritt hat nun wieder Fahrt aufgenommen, aber mit der Fertigstellung ist wohl nicht vor 2022 zu rechnen.

Fußnoten


(1) In Toulouse wartet der Occitanie Tower auf Baugenehmigung, das zweite französische Projekt, das Studio Libeskind, für die Compagnie de Phalsbourg entworfen hat.

(2) Archiv des Baudezernats Nizza (Service Autorisations d’Urbanisme et Permis de Construire)
(3) Patrick Lynch: „Studio Libeskind Wins Competitions for 2 New Projects in France“, ArchDaily vom 22.März 2017, zuletzt am 1.5.2021 abgerufen.
(4) Projekte der Stadtagglomeration NCA, zuletzt am 1.5.2021 abgerufen.
(5) Programme National de Requalification des Quartiers Anciens Dégradés

(6) Diese Festlegung der Stadtviertel beruht auf Angaben des französischen Amts für Statistik und Wirtschaftsstudien INSEE (Institut national de la statistique et des études économiques).

(9) Grundsteinlegung am 16. November 2017, Video zuletzt am 1.5.2021 abgerufen.

(7) Homepage von Studio Libeskind, zuletzt am 1.5.2021 abgerufen.

(8) Video auf der Facebook-Seite von Christian Estrosi: Besichtigung der Baustelle, nicht mehr abrufbar.
(10) Baufortschritt 19. Mai 2020, Video, zuletzt am 1.5.2021 abgerufen.

Libeskind in Nizza

An der Côte d’Azur wird derzeit das erste französische Bauvorhaben von Studio Libeskind realisiert (1). Es trägt den Namen Iconic und besetzt ein besonders prominentes Eckgrundstück an einer der Hauptschlagadern Nizzas.

Das Baufeld erstreckt sich über mehrere Parzellen entlang der Gleisanlagen, führt vom Hauptbahnhof hinunter zur Straßenbahnhaltestelle und markiert dort den Beginn der Fußgängerzone. Es wird vollständig überbaut. 18 300 m² BGF verteilen sich auf 6½ Geschosse: 7 000 m² Ladenfläche, 1 800 m² Büros und 2 200 m² Fitness-Studios, dazu kommt ein Hilton-Hotel mit 120 Zimmern, das Ganze in gläsern/metallisch funkelnde, facettenreiche Fassaden verpackt.

Ansichten, Studio Libeskind und Février Carré Architectes
Bauantrag PC00608816S0310 (2)

„Der Entwurf orientiert sich an einem für die Gegend typischen Mineral, dem  Azurit: Jede Spitze ist Teil eines perfekten Kristalls, dessen Kanten sich der Avenue Jean Médecin zuwenden, während sich in den metallischen Facetten der Fassade und den bedruckten Glasflächen die umliegenden Häuser, der Himmel und die Landschaft Nizzas spiegeln.“

Homepage Studio Liebeskind (3)

Libeskind bricht wie zu erwarten mit städtebaulichen Traditionen; die Meinungen sind entsprechend geteilt. Während manche kopfschüttelnd an der Baustelle vorbeigehen, setzen andere – darunter auch der Bürgermeister – große Hoffnungen in das Projekt. Mit der Bildung der Stadtagglomeration Metropole Nice Côte d’Azur ist Nizza Gegenstand einer ambitionierten Stadtentwicklungspolitik geworden. In der fünftgrößten Stadt Frankreichs sind zahlreiche Bauvorhaben geplant, bereits fertiggestellt oder noch im Bau: Allianz Riviera, Nice Méridia, Pôle Gare Thiers, Les Moulins, Eco Vallée …(4)

Das Gebäude, das Studio Libeskind für die Compagnie Phalsbourg entworfen und gemeinsam mit Fevrier Carre Architectes geplant hat, geht einher mit den Bemühungen um den Hauptbahnhof, denn das Grundstück gehörte bis dahin zum Bahnhofsareal und der gesamte Bereich ist Bestandteil eines nationalen Programms zur Erneuerung sanierungsbedürftiger Stadtviertel (PNRQAD) (5) . Das PNRQAD Notre Dame wurde 2012 eingerichtet und umfasst die Stadtviertel Notre Dame, Thiers und Vernier (6).

PNRQAD Notre Dame
Plangrundlage: Katasterplan

2015 wurde im Rahmen dieses Sanierungsprogramms ein Wettbewerb für den besagten östlichen Teil des Bahnhofsareals ausgerufen. In der engeren Auswahl: Altarea Cogedim mit dem Architekten Clément Blanchet, Cirmad-Bouygues mit dem Architekten Jean-Marie Duthilleul, Sogeprom mit Marc Mimram Architectes und die Compagnie de Phalsbourg mit Daniel Libeskind. Die Entscheidung fiel im Oktober 2016, die Jury wählte den von Libeskind entworfenen Iconic, um dem Bahnhofsviertel neues Leben einzuhauchen und die beiden Stadtviertel Thiers und Vernier zusammenzuführen.

Eine wahre Herausforderung, denn die vor langer Zeit gezogenen infrastrukturellen Grenzen – Bahntrasse und Stadtautobahn – bleiben vom Bauvorhaben unberührt.

Fußgänger, Skater und Fahrradfahrer können die Schienen im Bereich des Iconic nur an zwei Stellen unterqueren: Unmittelbar neben dem Baugrundstück führt die Fortsetzung der Fußgängerzone in blaues Zwielicht getaucht unter den Stahlträgern der alten Eisenbahnbrücke hindurch; eine zweite Unterführung, die schon wegen der schnell fahrenden Autos bei Fußgängern und Fahrradfahrern äußerst unbeliebt ist, liegt weiter westlich unter dem Bahnhofsgebäude. Weitere Verbindungen sind nicht vorgesehen. Die schienenbewehrte Barriere bleibt intakt.

Avenue Jean Medecin/Rue de la Reine Jeanne. © KJL

Dass hoch oben der Verkehr über die Stadtautobahn rauscht, macht die Sache nicht einfacher. Der Geräuschpegel mindert Wohnqualität und Marktwert. So war die Rue de la Reine Jeanne, die im Norden entlang der Gleise verläuft, lange Zeit verwahrlost: dunkle Ecken, als Pissoir oder Müllhalde genutzt, parkende Lieferwagen etc. Dank einiger im Rahmen des Sanierungsprogramms bereits durchgeführten Um- und Neubaumaßnahmen hat sich die Situation inzwischen etwas verändert.

Auf der anderen Seite der Gleisanlagen sah es immer etwas besser aus. Zum einen, weil sich dort der Eingang zum Hauptbahnhof befindet, zum anderen, weil die Avenue Thiers als Querverbindung zwischen den beiden Nord-Süd-Achsen diente. Im Rahmen des Projekts Pôle Gare Thiers wurde die Avenue Thiers nun beruhigt. Der Fahrradweg wartet noch auf seine Vollendung und Grünanlagen fehlen bislang, aber der neugestaltete Bahnhofsvorplatz mit Taxiständen und Bushaltestellen hat bereits etwas von seiner alten Eleganz zurückgewonnen.

Vernier und Thiers

Verbindungen
Plangrundlage: Katasterplan

Wie in vielen Städten leidet das Bahnhofsviertel natürlich auch darunter, dass die Menschen dort nicht verweilen wollen. Sie sind auf dem Weg woanders hin und steigen nur ein oder aus. Das neue Geschäftszentrum könnte dem Ort eine neue Dimension geben. Es verlässt sich nicht nur auf die Kauflust der Einwohner Nizzas, mit Büros und Fitness-Studios zieht auch städtischer Arbeitsalltag mitsamt Feierabendangebot ein.

Ob die Mischung dauerhaft Erfolg haben wird, wird letztendlich auch von Art und Qualität abhängen: Filialen großer Ketten mit Standardauswahl oder aparte Läden, in denen man beim Stöbern auch mal die Zeit vergessen kann, auf die Schnelle oder mit Sorgfalt zubereitete Speisen? Die Außenterrasse könnte das zweigeschossige Restaurant im 5. bzw. 6. Obergeschoss zu einem angesagten Treffpunkt machen.

Schnitte: Studio Libeskind und Février Carré Architectes

Bauantrag PC00608816S0310 (2)

Öffentlich zugängige Flächen im Freien sind im Erdgeschoss angeordnet. Da sich der Baukörper deutlich von der Grundstücksgrenze zurückhält und der Höhenunterschied zwischen Haupteingang und Bahnhofsvorplatz fast 5 m beträgt, entsteht entlang der Avenue Thiers eine Pufferzone, die sich über zwei Niveaus erstreckt, um schließlich da, wo die Straßenbahn hält und die Fußgängerzone beginnt, in eine groß angelegte Treppe zu münden, über die die Stadt hereinströmen kann.

Baumassenplan, Studio Libeskind und Février Carré Architectes

Bauantrag PC00608816S0310 (2)

Die Anordnung der Baumassen lässt keinen Zweifel offen: Der Bau wendet sich klar von den Gleisanlagen ab nach Süden. Die Verbindung nach Norden bleibt auf Sichtbeziehungen beschränkt. Hier soll die aufsehenerregende Architektur visuell zusammenführen, was räumlich getrennt bleibt.

„Ich wollte ein Gebäude schaffen, das aus jeder Richtung zu sehen ist. Ein Gebäude, das zu einem verbindenden Gewebe wird und das Viertel wieder zusammenbringt.“

Daniel Liebeskind (7)

Blick von der Rue Paganini auf die Baustelle, 3. Januar 2021. © KJL

Haltestelle der Straßenbahnlinie 1, 3. Januar 2021. © KJL

Aber wie viel Ausstrahlung muss ein Bau haben, um zum Mittelpunkt regen städtischen Treibens zu werden, um vorhandene räumliche Barrieren zu entkräften? Wie viel Charisma kann ein Gebäude haben? Wie verlockend muss das kulturelle und kommerzielle Angebot sein?

„Wir befinden uns hier in einer Stadtmitte, die, wenn man genauer hinsieht, ihren zentralen Charakter verloren hat, weil sich sämtliche Aktivitäten im Laufe der Jahre nach Süden verlagert haben … Wir setzen ein extrem starkes Zeichen, weil wir der Stadt auf diese Weise ihr Gleichgewicht wiedergeben.

Christian Estrosi, Bürgermeister von Nizza 2017 (8)

Die nicht mehr ganz so neue Mode, spektakuläre Architektur als Wunderdroge der Stadtentwicklung einzusetzen, hat auch Gegner und man kann die Frage nach Sinn und Nutzen solcher Bauten ruhig mal stellen, vor allem, wenn einem die Stadt als Schauplatz menschlicher Interaktion am Herzen liegt. Warum verselbstständigt sich die Architektur, warum gleichen Gebäude immer öfter Skulpturen? Brauchen wir keine Stadträume mehr? Was ist aus dem harmonischen Ensemble geworden? Ist Harmonie out?

Was Libeskinds Entwurf der Stadt Nizza auf Dauer bringt, bleibt abzuwarten. Die Eröffnung des Geschäftszentrums verschiebt sich vorerst. Der Bauantrag war kurz nach Verkündigung der Gewinner eingereicht und bereits im Mai 2017 genehmigt worden, die Arbeiten begannen noch im gleichen Jahr (9) , aber seit dem Lockdown im Frühjahr 2020 geht es eher langsam auf der Baustelle voran (10). Das Vorhaben leidet besonders stark unter der Corona-Krise, weil einige an ausländische Firmen vergebene Gewerke aufgrund diverser Reiseverbote längere Zeit stillstanden. Mit der Fertigstellung ist nicht vor 2022 zu rechnen.

Fußnoten


(1) In Toulouse wartet der Occitanie Tower auf Baugenehmigung, das zweite französische Projekt, das Studio Libeskind, für die Compagnie de Phalsbourg entworfen hat.

(2) Archiv des Baudezernats Nizza (Service Autorisations d’Urbanisme et Permis de Construire)

(3) Patrick Lynch: „Studio Libeskind Wins Competitions for 2 New Projects in France“, ArchDaily vom 22.März 2017, zuletzt am 1.5.2021 abgerufen.

(4) Projekte der Stadtagglomeration NCA, zuletzt am 1.5.2021 abgerufen.

(5) Programme National de Requalification des Quartiers Anciens Dégradés
(6) Diese Einteilung der Stadt Nizza in Stadtviertel beruht auf Angaben des französischen Amts für Statistik und Wirtschaftsstudien INSEE (Institut national de la statistique et des études économiques).
(9) Grundsteinlegung am 16. November 2017, Video zuletzt am 1.5.2021 abgerufen.

(7) Homepage von Studio Libeskind, zuletzt am 1.5.2021 abgerufen.

(8) Video auf der Facebook-Seite von Christian Estrosi: Besichtigung der Baustelle, nicht mehr abrufbar.
(10) Baufortschritt 19. Mai 2020, Video, zuletzt am 1.5.2021 abgerufen.

Links


Katasteramt
Ville de Nice
Studio Libeskind
Fevrier Carre Architectes
Compagnie de Phalsbourg

Videos


https://youtu.be/fJYV1g8iHCw

https://youtu.be/W4DrkLAGpgg

Libeskind in Nizza

An der Côte d’Azur wird derzeit das erste französische Bauvorhaben von Studio Libeskind realisiert (1). Es trägt den Namen Iconic und besetzt ein besonders prominentes Eckgrundstück an einer der Hauptschlagadern Nizzas.

Das Baufeld erstreckt sich über mehrere Parzellen entlang der Gleisanlagen, führt vom Hauptbahnhof hinunter zur Straßenbahnhaltestelle und markiert dort den Beginn der Fußgängerzone. Es wird vollständig überbaut. 18 300 m² BGF verteilen sich auf 6½ Geschosse: 7 000 m² Ladenfläche, 1 800 m² Büros und 2 200 m² Fitness-Studios, dazu kommt ein Hilton-Hotel mit 120 Zimmern, das Ganze in gläsern/metallisch funkelnde, facettenreiche Fassaden verpackt.

Ansichten, Studio Libeskind und Février Carré Architectes
Bauantrag PC00608816S0310 (2)

„Der Entwurf orientiert sich an einem für die Gegend typischen Mineral, dem  Azurit: Jede Spitze ist Teil eines perfekten Kristalls, dessen Kanten sich der Avenue Jean Médecin zuwenden, während sich in den metallischen Facetten der Fassade und den bedruckten Glasflächen die umliegenden Häuser, der Himmel und die Landschaft Nizzas spiegeln.“

Homepage Studio Liebeskind (3)

Libeskind bricht wie zu erwarten mit städtebaulichen Traditionen; die Meinungen sind entsprechend geteilt. Während manche kopfschüttelnd an der Baustelle vorbeigehen, setzen andere – darunter auch der Bürgermeister – große Hoffnungen in das Projekt. Mit der Bildung der Stadtagglomeration Metropole Nice Côte d’Azur ist Nizza Gegenstand einer ambitionierten Stadtentwicklungspolitik geworden. In der fünftgrößten Stadt Frankreichs sind zahlreiche Bauvorhaben geplant, bereits fertiggestellt oder noch im Bau: Allianz Riviera, Nice Méridia, Pôle Gare Thiers, Les Moulins, Eco Vallée …(4)

Das Gebäude, das Studio Libeskind für die Compagnie Phalsbourg entworfen und gemeinsam mit Fevrier Carre Architectes geplant hat, geht einher mit den Bemühungen um den Hauptbahnhof, denn das Grundstück gehörte bis dahin zum Bahnhofsareal und der gesamte Bereich ist Bestandteil eines nationalen Programms zur Erneuerung sanierungsbedürftiger Stadtviertel (PNRQAD) (5) . Das PNRQAD Notre Dame wurde 2012 eingerichtet und umfasst die Stadtviertel Notre Dame, Thiers und Vernier (6).

PNRQAD Notre Dame
Plangrundlage: Katasterplan

2015 wurde im Rahmen dieses Sanierungsprogramms ein Wettbewerb für den besagten östlichen Teil des Bahnhofsareals ausgerufen. In der engeren Auswahl: Altarea Cogedim mit dem Architekten Clément Blanchet, Cirmad-Bouygues mit dem Architekten Jean-Marie Duthilleul, Sogeprom mit Marc Mimram Architectes und die Compagnie de Phalsbourg mit Daniel Libeskind. Die Entscheidung fiel im Oktober 2016, die Jury wählte den von Libeskind entworfenen Iconic, um dem Bahnhofsviertel neues Leben einzuhauchen und die beiden Stadtviertel Thiers und Vernier zusammenzuführen.

Eine wahre Herausforderung, denn die vor langer Zeit gezogenen infrastrukturellen Grenzen – Bahntrasse und Stadtautobahn – bleiben vom Bauvorhaben unberührt.

Fußgänger, Skater und Fahrradfahrer können die Schienen im Bereich des Iconic nur an zwei Stellen unterqueren: Unmittelbar neben dem Baugrundstück führt die Fortsetzung der Fußgängerzone in blaues Zwielicht getaucht unter den Stahlträgern der alten Eisenbahnbrücke hindurch; eine zweite Unterführung, die schon wegen der schnell fahrenden Autos bei Fußgängern und Fahrradfahrern äußerst unbeliebt ist, liegt weiter westlich unter dem Bahnhofsgebäude. Weitere Verbindungen sind nicht vorgesehen. Die schienenbewehrte Barriere bleibt intakt.

Avenue Jean Medecin/Rue de la Reine Jeanne. © KJL

Dass hoch oben der Verkehr über die Stadtautobahn rauscht, macht die Sache nicht einfacher. Der Geräuschpegel mindert Wohnqualität und Marktwert. So war die Rue de la Reine Jeanne, die im Norden entlang der Gleise verläuft, lange Zeit verwahrlost: dunkle Ecken, als Pissoir oder Müllhalde genutzt, parkende Lieferwagen etc. Dank einiger im Rahmen des Sanierungsprogramms bereits durchgeführten Um- und Neubaumaßnahmen hat sich die Situation inzwischen etwas verändert.

Auf der anderen Seite der Gleisanlagen sah es immer etwas besser aus. Zum einen, weil sich dort der Eingang zum Hauptbahnhof befindet, zum anderen, weil die Avenue Thiers als Querverbindung zwischen den beiden Nord-Süd-Achsen diente. Im Rahmen des Projekts Pôle Gare Thiers wurde die Avenue Thiers nun beruhigt. Der Fahrradweg wartet noch auf seine Vollendung und Grünanlagen fehlen bislang, aber der neugestaltete Bahnhofsvorplatz mit Taxiständen und Bushaltestellen hat bereits etwas von seiner alten Eleganz zurückgewonnen.

Vernier und Thiers

Verbindungen
Plangrundlage: Katasterplan

Wie in vielen Städten leidet das Bahnhofsviertel natürlich auch darunter, dass die Menschen dort nicht verweilen wollen. Sie sind auf dem Weg woanders hin und steigen nur ein oder aus. Das neue Geschäftszentrum könnte dem Ort eine neue Dimension geben. Es verlässt sich nicht nur auf die Kauflust der Einwohner Nizzas, mit Büros und Fitness-Studios zieht auch städtischer Arbeitsalltag mitsamt Feierabendangebot ein.

Ob die Mischung dauerhaft Erfolg haben wird, wird letztendlich auch von Art und Qualität abhängen: Filialen großer Ketten mit Standardauswahl oder aparte Läden, in denen man beim Stöbern auch mal die Zeit vergessen kann, auf die Schnelle oder mit Sorgfalt zubereitete Speisen? Die Außenterrasse könnte das zweigeschossige Restaurant im 5. bzw. 6. Obergeschoss zu einem angesagten Treffpunkt machen.

Schnitte: Studio Libeskind und Février Carré Architectes

Bauantrag PC00608816S0310 (2)

Öffentlich zugängige Flächen im Freien sind im Erdgeschoss angeordnet. Da sich der Baukörper deutlich von der Grundstücksgrenze zurückhält und der Höhenunterschied zwischen Haupteingang und Bahnhofsvorplatz fast 5 m beträgt, entsteht entlang der Avenue Thiers eine Pufferzone, die sich über zwei Niveaus erstreckt, um schließlich da, wo die Straßenbahn hält und die Fußgängerzone beginnt, in eine groß angelegte Treppe zu münden, über die die Stadt hereinströmen kann.

Baumassenplan, Studio Libeskind und Février Carré Architectes

Bauantrag PC00608816S0310 (2)

Die Anordnung der Baumassen lässt keinen Zweifel offen: Der Bau wendet sich klar von den Gleisanlagen ab nach Süden. Die Verbindung nach Norden bleibt auf Sichtbeziehungen beschränkt. Hier soll die aufsehenerregende Architektur visuell zusammenführen, was räumlich getrennt bleibt.

„Ich wollte ein Gebäude schaffen, das aus jeder Richtung zu sehen ist. Ein Gebäude, das zu einem verbindenden Gewebe wird und das Viertel wieder zusammenbringt.“

Daniel Liebeskind (7)

Blick von der Rue Paganini auf die Baustelle, 3. Januar 2021. © KJL

Haltestelle der Straßenbahnlinie 1, 3. Januar 2021. © KJL

Aber wie viel Ausstrahlung muss ein Bau haben, um zum Mittelpunkt regen städtischen Treibens zu werden, um vorhandene räumliche Barrieren zu entkräften? Wie viel Charisma kann ein Gebäude haben? Wie verlockend muss das kulturelle und kommerzielle Angebot sein?

„Wir befinden uns hier in einer Stadtmitte, die, wenn man genauer hinsieht, ihren zentralen Charakter verloren hat, weil sich sämtliche Aktivitäten im Laufe der Jahre nach Süden verlagert haben … Wir setzen ein extrem starkes Zeichen, weil wir der Stadt auf diese Weise ihr Gleichgewicht wiedergeben.

Christian Estrosi, Bürgermeister von Nizza 2017 (8)

Die nicht mehr ganz so neue Mode, spektakuläre Architektur als Wunderdroge der Stadtentwicklung einzusetzen, hat auch Gegner und man kann die Frage nach Sinn und Nutzen solcher Bauten ruhig mal stellen, vor allem, wenn einem die Stadt als Schauplatz menschlicher Interaktion am Herzen liegt. Warum verselbstständigt sich die Architektur, warum gleichen Gebäude immer öfter Skulpturen? Brauchen wir keine Stadträume mehr? Was ist aus dem harmonischen Ensemble geworden? Ist Harmonie out?

Was Libeskinds Entwurf der Stadt Nizza auf Dauer bringt, bleibt abzuwarten. Die Eröffnung des Geschäftszentrums verschiebt sich vorerst. Der Bauantrag war kurz nach Verkündigung der Gewinner eingereicht und bereits im Mai 2017 genehmigt worden, die Arbeiten begannen noch im gleichen Jahr (9) , aber seit dem Lockdown im Frühjahr 2020 geht es eher langsam auf der Baustelle voran (10). Das Vorhaben leidet besonders stark unter der Corona-Krise, weil einige an ausländische Firmen vergebene Gewerke aufgrund diverser Reiseverbote längere Zeit stillstanden. Mit der Fertigstellung ist nicht vor 2022 zu rechnen.

Fußnoten


(1) In Toulouse wartet der Occitanie Tower auf Baugenehmigung, das zweite französische Projekt, das Studio Libeskind, für die Compagnie de Phalsbourg entworfen hat.

(2) Archiv des Baudezernats Nizza (Service Autorisations d’Urbanisme et Permis de Construire)

(3) Patrick Lynch: „Studio Libeskind Wins Competitions for 2 New Projects in France“, ArchDaily vom 22.März 2017, zuletzt am 1.5.2021 abgerufen.

(4) Projekte der Stadtagglomeration NCA, zuletzt am 1.5.2021 abgerufen.

(5) Programme National de Requalification des Quartiers Anciens Dégradés
(6) Diese Einteilung der Stadt Nizza in Stadtviertel beruht auf Angaben des französischen Amts für Statistik und Wirtschaftsstudien INSEE (Institut national de la statistique et des études économiques).
(9) Grundsteinlegung am 16. November 2017, Video zuletzt am 1.5.2021 abgerufen.

(7) Homepage von Studio Libeskind, zuletzt am 1.5.2021 abgerufen.

(8) Video auf der Facebook-Seite von Christian Estrosi: Besichtigung der Baustelle, nicht mehr abrufbar.
(10) Baufortschritt 19. Mai 2020, Video, zuletzt am 1.5.2021 abgerufen.

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Studio Libeskind
Fevrier Carre Architectes
Compagnie de Phalsbourg

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